„Nichts geschieht, wenn du zu Hause sitzt“ – in Zeiten von Corona wäre nochmal kurz klarzustellen, dass sich diese Seite um Streetfotografie dreht – und „Die beste Kamera ist gerade die, die man dabei hat“ Elliott Erwitt.
In diesem Sinne lassen wir uns heute mit ans andere Ende der Welt nehmen, um unseren fotografischen Blick zurück auf das Wesentliche zu lenken. Vielen Dank dafür und der blog gehört dir, Jürgen…!
Geht’s euch auch manchmal so? Irgendwo haben wir etwas von “Street Photography” aufgeschnappt, und dass das total cool ist, okay, machen wir das also auch.
Wir machen uns schlau und kaufen uns also eine kleine Kamera und eine 28 mm oder 35 mm Festbrennweite extra für die Street Photography, und sofort geht’s ab in die Fußgängerzone … mal sehen, wäre doch gelacht, wenn nicht ein kleiner Bruce Gilden in uns steckte!
Nach einer Weile des Probierens bekommen wir Zweifel. Alles ist grau-in-grau. Keine tollen Licht- und Schattenspiele. Keine leuchtenden Farben. Vor allem keine spannenden Stories, keine fotogenen Charaktere, keine entscheidenden Momente.
Sieht man sich die Fotos der anderen an, ist es ganz einfach, aber wenn man erst einmal selber unterwegs ist …
Wie ist es denn mit den erfolgreichen (Street-)Fotografen, wie machen die das? Was sagen sie?
Neben jener Sorte von Streetfotografen, die eigentlich mehr Influencer als Fotografen sind und die vor allem beschreiben, welches Equipment man braucht, gibt es auch die wahren Meister, und von denen kann man enorm viel abschauen und lernen!
Wahrscheinlich habt ihr alle schon einmal das Zitat gelesen: “Deine ersten zehntausend Fotos sind deine schlechtesten.” Es wird Helmut Newton zugeschrieben. Die Botschaft ist also: hab Geduld! Fotografiere viel, richtig viel, extrem viel!
Eine 60seitige Broschüre von Magnum Photos, die vor ein paar Jahren erschien, hatte den Titel: “Wear good shoes”. Nicht: kauf‘ dir bessere Objektive, probier’s mal mit Mittelformat, stell‘ die Kamera immer auf “M”, buch‘ mal einen Workshop – sondern: “Kauf‘ dir gute Schuhe”.
Alex Webb, einer der profiliertesten Streetfotografen und Mitglied bei Magnum Photos, sagte einmal sinngemäß, dass (selbst bei ihm, dem Meister!) neunundneunzig Prozent der Streetfotos Ausschuss sind.
Er sagt: “Ich kann mich einem Ort nur zu Fuß annähern. Denn was macht ein Straßenfotograf, als zu gehen und zu schauen und zu warten und zu reden und dann zu schauen und noch etwas zu warten, um zuversichtlich zu bleiben, dass das Unerwartete, das Unbekannte oder die geheime Hitze des Bekannten gleich um die Ecke wartet.”
Geduld also! Sind wir schon bei zehntausend Fotos? Haben wir schon mehrfach die Schuhe neu besohlen lassen? (Nebenbei gesagt, ich kaufe immer Marathon- oder gar Ultramarathonschuhe, denn Schuhe, in denen andere 42 km oder mehr laufen, sind für die Streetfotografie genau richtig … einfach stundenlang superbequem. Wenn ich das Vorjahresmodell nehme, kosten sie statt 200 Euro nur noch hundert … ein Schnäppchen.)
Webb beschreibt seine Zweifel, es geht ihm also genau wie uns: “Ich meine, es ist eine Besessenheit, du folgst der Besessenheit, aber gleichzeitig hast du so viele Zweifel, weißt du? Warum verschwende ich so viel Geld, wenn ich an diesen Ort zurückkehre und mehr Bilder mache? Was ist der Sinn davon? Das interessiert doch niemanden.”
Wie langsam die Uhren in Webbs Kosmos gehen, wird durch dieses Zitat deutlich:
“Drei Jahre nach meiner ersten Reise nach Haiti wurde mir klar, dass es eine weitere emotionale Note gibt, mit der gerechnet werden muss: die intensive, lebendige Farbe dieser Welten. Das sengende Licht und die intensive Farbe schienen irgendwie in die Kulturen eingebettet zu sein, in denen ich angefangen hatte zu arbeiten, und sie unterschieden sich grundlegend von der graubraunen Zurückhaltung meines New-England-Hintergrunds. Seitdem arbeite ich überwiegend in Farbe.”
Schluck! Drei Jahre! Webb hatte in den USA bereits wunderbare Reportagefotos in schwarz-weiß gemacht, und erst drei Jahre nach einem Karibikaufenthalt beeinflusste das seinen Stil und seine Arbeitsweise!
Was man nicht ausprobiert, erlebt und erlitten hat, beherrscht man nicht.
Rausgehen und fotografieren … die Bilder analysieren, daraus lernen … wieder rausgehen und fotografieren … die Bilder ansehen und bewerten und daraus lernen … Praxis … Theorie … Praxis … Theorie … da capo …
Frustrierend? Was meint ihr dazu?
Autoreninfo: Jürgen Warschun wurde vor inzwischen fast zehn Jahren vom Street Photography Virus infiziert, als er Fotos von Fotografen wie Saul Leiter, Ernst Haas, Alex Webb, Harry Gruyaert und Gueorgui Pinkhassov sah und von da an „auch sowas machen“ wollte.
Er ist fotografisch vor allem in der Dominikanischen Republik (wo er seit vielen Jahren wohnt) und Haiti unterwegs, aber gelegentlich auch in Nordafrika und Europa.
2 Comments on “gastbeitrag: JÜRGEN WARSCHUN – gute schuhe”
Hallo, wie schön, dass wir uns „begegnet“ sind und ich diesen Artikel lesen durfte. Nein, nicht frustrierend, und eine gewisse Not dient doch dem Ergebnis. Es sind Streifzüge, die aus einem inneren Trieb, Bedürfnis, einer Leidenschaft oder Sucht entstehen. Ein Antrieb, der aus uns das macht, was wir wollen. Es ist ein Prozess, und manchmal sind Bilder, wenn sie reifen durften neu zu betrachten. Wir stehen nicht still, nicht äußerlich, aber auch nicht inwendig.
Das Beste ist, wir tun es.
Warum nicht, frage ich, warum nicht.
Sehr cooler Artikel. Hat mich sofort angesprochen und das mit den guten Schuhen ist so wahr 🙂
LG Doro
Oh ja!
Als ich noch Gast in der FC war habe ich bei Ausrüstung: „Turnschuhe“ hingeschrieben :))
Beste Grüsse vom „Physiater“ oder „wokommsewech“