langzeitprojekt – (m)eine strasse…

In einem früheren blog-Artikel (von lieblingsplätzen und schönwetterfotografie…) wurde das Thema der wiederkehrenden locations schon mal angerissen. Heute soll dieser Gedanke vertieft und konkretisiert werden. Anlass ist eine neues, von Jolanta initiiertes Langzeitprojekt – (M)eine Straße.

  • Die Grundidee: über einen längeren Zeitraum ganz bewusst immer wieder am selben Ort fotografieren
  • Die Rahmenbedingungen: ein Jahr, eine Straße, quartalsweise Auswahl der besten Bilder, keine sonstigen Vorgaben
  • Das Ziel: klar – jeweils ansprechend präsentierte Serien, welche die Stimmung eines Ortes vermitteln und einen Teil seiner Geschichte dokumentieren. Blabla, punkt.


Aber: natürlich geht´s letztendlich vor allem darum, zu fotografieren, Spaß zu haben, Bilder zu machen, sich selbst und den Ort besser kennen zu lernen, zu fotografieren. Es geht um das Erfolgserlebnis, am Ball geblieben zu sein und ein größeres Projekt abgeschlossen zu haben, Bilder zu machen, als Gruppe weiter zusammen zu wachsen, sich gegenseitig zu unterstützen und voneinander zu lernen, zu fotografieren und besser zu werden in dem, was wir gerne tun.

Wir Streetfotografen leben von und finden unsere Inspiration zu einem ganz großen Teil in neuen Eindrücken, unbekannten Städten und Ländern, die uns staunen lassen und uns das Gefühl geben, an jeder Ecke wartet ein neues Motiv und letztlich das eine Bild. Aber sicher jeder von uns kennt auch den Rat, mehr im „eigenen Vorgarten“ zu fotografieren. „Man erlernt sein Handwerk in der unmittelbaren Nachbarschaft“ liest man da und viele namhafte Autoren und Fotografen richten diese Empfehlung insbesondere an jene, die ihre ersten Schritte in der Streetfotografie wagen. Man könnte unzählige Beispiele anführen, besonders angesprochen hat mich eine Zitat von Robin Wong, er bringt die entscheidenden Aspekte auf den Punkt:

„I have been asked many times by different people – „Robin, don’t you ever get bored returning to the same streets, shooting again and again in the same location?“ My answer has been a consistent no, I don’t get bored. The more I come back to the same location, the more I shoot on the same streets, the more I know these locations better. I know every alley, every turn, every corner, and these little details can greatly help me make better decisions when I am shooting. I know where to look for interesting subjects, I know where to position myself, I know exactly how the light will fall and where to find an interesting background to work my shots. Having familiarised myself with the location I can then worry less and start focusing on what truly matters in a street photograph – the moment, the subject and the drama. Street photography is a long term project, you cannot just go out once or twice walking along the same streets and expect to shoot winners. If only photography is so easy!“

https://robinwong.blogspot.com/2020/05/unconventional-street-photography-tips.html


Wäre eigentlich ja schon fast alles gesagt. Ich möchte euch aber einen weiteren Fotografen nicht vorenthalten. Im Rahmen der Arbeit für diesen Artikel bin in über Peter Funch gestolpert. Er hat das Projekt „(M)eine Straße“ quasi auf die Spitze getrieben. Über neun Jahre, von 2007 bis 2016, immer zwischen 8:30 und 9:30Uhr fotografierte er an immer der gleichen Stelle in New York – Ecke 42nd and Vanderbilt -, streetphotography par excellence. Das Ergebnis ist faszinierend, irgendwie aber auch ein wenig erschreckend zugleich. Es zeigt Menschen in ihrem Alltag (im wahrsten Sinn des Wortes) teils über Jahre hinweg, in immer wieder den selben Situationen, wiederkehrende Gesten, sich ähnelnde Kleidung – ein Spiegel unserer Gesellschaft oder der Mensch als Gewohnheitstier…

Nun werden wir ehrlich gesagt ein wenig zu unserem Glück gezwungen. Aufgrund der aktuellen Beschränkungen sind größere Fototouren in der Gruppe genauso wie Städtereisen leider kaum möglich, also musste ein Alternativprojekt her. Ein kurzes WhatsApp-brainstorming erbrachte ganz unterschiedliche Aspekte, Vorstellungen und Herangehensweisen. Da waren rein praktische Punkte wie „die Straße um die Ecke“, „laufe ich ohnehin regelmäßig lang“ oder „jederzeit ohne große Vorbereitung /Aufwand zu erreichen“. Es wurden aber auch Dinge wie „ich brauche irgendeine Motivation“, „dann beweg ich mich wenigstens“ bzw. „ein gemeinsames Projekt, an welchen aber jeder für sich selber flexibel arbeiten kann“ oder „guter Einstieg in serielles Arbeiten“ wurden genannt. Die unterschiedlichen denkbaren Herangehensweisen reichen von einfach drauf los laufen und fotografieren bis hin zu strukturierten Dokumentationen – Überblick der Straße, markante Stellen, Veränderungen im Laufe des Jahres – aber auch Reportagen ergänzt durch Hintergrundinformationen und evtl. Portraits/Interviews der Anwohner. Ich denke, wenn man über einen derart langen Zeitraum an immer wieder den gleichen Orten fotografiert, wird man zwangsläufig auch häufiger die selben Personen treffen und idealerweise ganz automatisch und ungezwungen ins Gespräch kommen. Ein Punkt, der einen sicher auf seinem streetfotografischen Weg enorm weiterbringen kann – „talking to strangers is good“ lautet ein Tipp von Darrin Henry. Er hat noch mehr davon in seinem blog, sehr unterhaltsam und kurzweilig…

Ganz egal, wie die Ergebnisse am Ende auch sein werden. Ich glaube jeder von uns kann von einem solchen Langzeitprojekt profitieren und wenn nur deswegen, weil man gezwungen ist, sich auf ein Thema zu konzentrieren und kontinuierlich an Selbigem zu arbeiten. Es kann zudem Sicherheit und Vertrauen in sich selbst bringen, auch weil man vielleicht nach einer gewissen Zeit quasi zum Straßenbild gehört und weniger auffällt. Und nicht zuletzt ergeben sich sicher neue Lieblingsorte und locations für unseren streetguide.

Wohl die größte Herausforderung wird die Motivation und das „am Ball bleiben“ werden – wie oben schon gesagt, reizt uns in der Regel eben doch das Neue… Es gibt aber durchaus mögliche Strategien, um sich bei Laune zu halten. Man kann zu unterschiedlichen Wochentagen und Uhrzeiten fotografieren, was einem verschiedene Lichtstimmungen, Passanten und Aktivitäten beschert. Auch die generelle Motivwahl, z.B. Streetportraits vs. eher architekturbetonte Bilder bedeuten Abwechslung. Bewusste Perspektivenwechsel bringen Spannung – Augenhöhe, aus der Hüfte oder aus der Froschperspektive. Wenn möglich bietet sich zudem ein gelegentlicher Wechsel der verwendeten Brennweite bzw. Ausrüstung an, zudem ein Sprung zwischen digital und analog. In vielen Straßen finden über das Jahr verteilt auch Veranstaltungen statt, welche ganz neue Ansichten, Aspekte und neue Motivation mit sich bringen. Sich feste Etappenziele zu setzen und regelmäßige gemeinsame Besprechungen kann helfen, nicht aufzugeben. Und nicht zuletzt hoffen wir bald wieder auf die Möglichkeit, auch gemeinsam zu fotografieren, sodass man sich gegenseitig „seine“ Straße näher bringen kann.

Auf jeden Fall freue ich mich und ich denke auch alle meiner Kollegen darauf, das Projekt zu starten und euch hoffentlich in einem Jahr unsere Ergebnisse präsentieren zu können.

Ich bin gespannt, wie sich das Projekt und unsere Fotografie entwickeln und ob bzw. wie konsequent wir es schaffen, wirklich am Ball zu bleiben!

Ihr habt Anregungen oder eigene Erfahrungen zu diesem Thema, dann lasst uns teilhaben…

Danke schon mal für eure Unterstützung, bleibt gesund und bis bald,

gerald

2 Comments on “langzeitprojekt – (m)eine strasse…”

  1. Top 👌🏻 da mache ich mit!!!
    Toller Beitrag, und klasse passt zu meinen eigenen Projekten sehr gut dazu.

    Habe mir schon am einen Ordner angelegt!
    Liebe Grüsse
    Cem

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